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Von der Maschinenrichtlinie zur Maschinenverordnung: Neue Anforderungen an die Berücksichtigung menschlicher Faktoren und Fehler in der Entwicklung sicherer Maschinen

Mit der Verabschiedung der Verordnung (EU) 2023/1230 über Maschinen am 29. Juni 2023 wird die bisher geltende Maschinenrichtlinie 2006/42/EG sukzessive abgelöst. Dieser Übergang markiert nicht nur einen juristischen Wechsel von einer Richtlinie zu einer unmittelbar geltenden Verordnung, sondern auch eine konzeptionelle Weiterentwicklung in der Berücksichtigung von Risiken, die aus dem Zusammenwirken von Mensch und Technik entstehen. Für Ingenieur:innen und Entwickler:innen ergeben sich daraus neue Implikationen hinsichtlich der Integration von Human Factors (HF) und der systematischen Berücksichtigung menschlichen Fehlverhaltens (Human Error) entlang des gesamten Lebenszyklus von Maschinen. Ziel dieses Beitrags ist es, die relevanten Veränderungen aus psychologischer und technischer Perspektive systematisch darzustellen und ihre Bedeutung für die industrielle Praxis zu analysieren.


1. Hintergrund und Kontext der Regulatorik

Die Maschinenrichtlinie 2006/42/EG galt seit dem 29. Dezember 2009 als zentrale Grundlage für die Konstruktion sicherer Maschinen im Binnenmarkt der Europäischen Union. Ihr Ziel war es, den freien Warenverkehr zu gewährleisten und zugleich ein hohes Sicherheitsniveau für Benutzer:innen sicherzustellen. Die neue Maschinenverordnung (EU) 2023/1230, die die Richtlinie schrittweise ablöst (vollständig ab dem 20. Januar 2027), wurde im Zuge der digitalen Transformation, zunehmender Vernetzung sowie der Einführung künstlicher Intelligenz (KI) notwendig. Sie erweitert bestehende Anforderungen auf softwarebasierte Produkte und digitale Schutzmaßnahmen und stärkt explizit die Rolle des Menschen im Sicherheitskonzept der Maschine.

2. Relevante Unterschiede im Bereich Human Factors und Human Error


Während die Maschinenrichtlinie Human Factors eher implizit über Anforderungen an die Ergonomie (§1.1.6) und den vorhersehbaren Gebrauch (§1.1.1, §1.1.2) adressierte, etabliert die Maschinenverordnung in mehreren Artikeln und Anhängen eine explizite Auseinandersetzung mit menschlichen Faktoren, kognitiven Belastungen, Interaktionsfehlern und vertrauensbildenden Maßnahmen.


2.1. Systematische Berücksichtigung vorhersehbarer Fehlanwendung

Bereits die Richtlinie forderte, „Fehlanwendungen, die vernünftigerweise vorhersehbar sind“, zu berücksichtigen (2006/42/EG, Anhang I, 1.1.1). Die neue Verordnung greift diesen Gedanken auf, erweitert ihn aber durch die Pflicht zur expliziten Risikobewertung auch für „Interaktionen mit Softwarefunktionen“, einschließlich KI-Elementen (Anhang III der Verordnung (EU) 2023/1230). Dies schließt insbesondere Bedienfehler, Fehleinschätzungen, aber auch passive Fehler wie Unterlassen ein. Entwickelnde müssen also künftig stärker mit psychologischen Fehlermodellen (z. B. nach Reason, 1990) arbeiten.


2.2. Psychologische Belastung und kognitive Ergonomie

Neu ist auch die Forderung nach der Reduktion kognitiver Belastung bei Bedienhandlungen. Artikel 10 und Anhang III nennen die „Informationsverarbeitung durch die natürlichen Personen“, ihre „kognitiven Fähigkeiten“ sowie „Interaktionen mit automatisierten Entscheidungen“ ausdrücklich als relevante Sicherheitsfaktoren. Dies erfordert in der Praxis eine stärkere Integration kognitionspsychologischer Erkenntnisse in das Interface- und Prozessdesign, etwa durch konsistente Rückmeldungen, verständliche Warnungen und redundante Sicherheitshilfen.


2.3. Vertrauenswürdigkeit technischer Systeme

Vertrauen wird in der Maschinenverordnung erstmals als funktionaler Aspekt der Sicherheit anerkannt. In Verbindung mit Softwarekomponenten – insbesondere lernenden Systemen – wird Vertrauen als notwendige Voraussetzung für die sichere Nutzung definiert. Die Wahrnehmung von Kontrolle, Transparenz der Entscheidungen und erklärbares Systemverhalten rücken damit in den Mittelpunkt technischer Gestaltung, was an den Begriff des Trustworthy AI (siehe z. B. High-Level Expert Group on AI, 2020) anschließt.


2.4. Neue Anforderungen an Dokumentation und Schulung

Die Maschinenverordnung verpflichtet Hersteller zur Dokumentation aller Sicherheitsentscheidungen im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten (Anhang II) und erweitert die Anforderungen an Gebrauchsanweisungen um explizite Hinweise auf Risiken infolge menschlicher Fehler oder fehlender Kompetenzen (Art. 21). Dies betrifft auch Wartung, Instandsetzung und Updateprozesse, die häufig Schnittstellenfehler generieren. Die Konsequenz: Schulungskonzepte müssen um Human Factors-Aspekte ergänzt werden, inklusive simulativer Schulungen und Fehleranalysen.


3. Implikationen für die Entwicklungspraxis

Diese Entwicklungen machen deutlich, dass Human Factors keine Ergänzung technischer Systeme sind, sondern integraler Bestandteil der Sicherheitsarchitektur. Für die Entwicklungsabteilungen bedeutet dies:

Erstens wird eine frühzeitige interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Technik, Psychologie und Usability Engineering notwendig. Zweitens gewinnen iterative Testverfahren mit realen Nutzer:innen an Bedeutung, um kognitive Belastungen und Fehlerpotenziale im Nutzungskontext valide zu identifizieren. Drittens sind Safety-by-Design-Strategien um Modelle wie STAMP (System-Theoretic Accident Model and Processes; Leveson, 2012) zu erweitern, die systemische Interaktionen und menschliches Verhalten gemeinsam betrachten.


4. Fazit

Die Maschinenverordnung (EU) 2023/1230 ist mehr als ein juristisches Update – sie bringt eine konzeptionelle Vertiefung des Sicherheitsverständnisses, das den Menschen als dynamischen Teil technischer Systeme begreift. Für Ingenieur:innen und Entwickler:innen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sich mit psychologischen Prinzipien menschlicher Fehler, Wahrnehmungsgrenzen und Interaktionsmuster vertraut zu machen und diese systematisch in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Nur durch diese neue ganzheitliche Perspektive können Maschinen auch in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt sicher, verständlich und vertrauenswürdig gestaltet werden.


Literatur

European Parliament and Council. (2023). Regulation (EU) 2023/1230 of the European Parliament and of the Council on machinery. Official Journal of the European Union.
European Parliament and Council. (2006). Directive 2006/42/EC on machinery. Official Journal of the European Union.
High-Level Expert Group on Artificial Intelligence. (2020). Ethics Guidelines for Trustworthy AI. European Commission.
Leveson, N. G. (2012). Engineering a safer world: Systems thinking applied to safety. MIT Press.
Reason, J. (1990). Human error. Cambridge University Press.

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