Die Geschichte menschlicher Arbeit ist auch eine Geschichte der Mensch-Technik-Beziehung. Was einst mit Handwerk und Muskelkraft begann, hat sich über mehrere industrielle Revolutionen hinweg zu einer zunehmend kognitiv geprägten, datengetriebenen und algorithmisch unterstützten Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine entwickelt. In der aktuellen Phase digitaler Transformation – beschleunigt durch lernfähige Systeme – steht nun die Mensch-KI-Kollaboration im Zentrum. Dieser Artikel zeichnet diese Entwicklung aus der Perspektive der Human Factors nach und diskutiert, wie sich psychologische Anforderungen, Rollenbilder und Gestaltungsspielräume verändert haben – mit Implikationen für Entwickler und Manager.
Von der Handarbeit zur Automatisierung
In der vormodernen Handarbeit stand der Mensch im Mittelpunkt: Er war Gestalter, Ausführer und Kontrollinstanz zugleich. Werkzeuge dienten der Verlängerung individueller Fähigkeiten (Norman, 1988). Mit dem Übergang zur Manufaktur (Adam Smiths „pin factory“) wurde Arbeit erstmals systematisch in Teilschritte zerlegt, eine frühe Form der kognitiven Entlastung – und auch eine frühe Form der Entfremdung (Marx, 1867/2004).
Die Industrialisierung, insbesondere die Tayloristische Arbeitsteilung (Taylor, 1911), institutionalisierte diesen Trend: Der „menschliche Faktor“ wurde reduziert auf physische Leistungsfähigkeit und Reaktionszeit. Erst mit der Unfallforschung ab den 1940er-Jahren – etwa der berühmten Cockpit-Analysen nach Flugzeugabstürzen – rückte wieder der Mensch als Fehlerquelle, aber auch als Ressource in den Blick (Reason, 1990; Dekker, 2011).
Die Mechanisierung und spätere Automatisierung verschoben die menschliche Rolle weiter: weg vom Tätigen, hin zum Überwachenden. Dieser Wandel war keineswegs reibungslos: Studien zeigen, dass monotone Überwachungstätigkeiten mit erhöhter Fehleranfälligkeit und mentaler Ermüdung einhergehen (Parasuraman & Riley, 1997). Gleichzeitig stieg die Komplexität der Entscheidungen, insbesondere bei Störungen – ein klassisches Beispiel für das „Ironische der Automatisierung“ (Bainbridge, 1983).
Digitalisierung und die Rückkehr des Denkens
Mit der Digitalisierung änderte sich nicht nur die Infrastruktur der Arbeit, sondern auch deren epistemologischer Rahmen. Daten wurden zur zentralen Ressource, digitale Zwillinge zur Realität zweiter Ordnung. Menschliche Arbeit verschob sich auf neue kognitive Anforderungen: Problemerkennung, situatives Urteilen und kreatives Adaptieren gewannen an Bedeutung – Fähigkeiten, die durch Standardisierung nicht zu ersetzen sind (Endsley, 2018).
Hier beginnt die Rückkehr des Menschen als gestaltender Akteur – jedoch unter neuen Vorzeichen. Er muss nicht nur Technik bedienen, sondern auch deren Logik, Grenzen und Nebenwirkungen verstehen. Interdisziplinäre Studien belegen: Digitalisierung ist weniger ein technisches als ein sozio-kognitives Projekt (Hollnagel, 2012).
Perspektive Mensch-KI-Kollaboration
Der Übergang zur Mensch-KI-Kollaboration ist keine lineare Fortsetzung der Automatisierung, sondern eine paradigmatische Verschiebung. Während klassische Automatisierung deterministische Systeme ersetzte, arbeiten heutige KI-Systeme probabilistisch, datengetrieben und kontextabhängig – sie „funktionieren“, aber wir wissen oft nicht genau, wie (Rahwan et al., 2019). Für die Human Factors-Forschung ergibt sich daraus eine neue Herausforderung: Der Mensch ist nicht mehr alleiniger Entscheider, sondern Teil eines kognitiven Verbundes – eine „Teamarbeit“ mit Maschinen (Bradshaw et al., 2013).
Das bedeutet neue Anforderungen an Erklärbarkeit, Vertrauenswürdigkeit, mentale Modelle und situative Kontrolle (Hoff & Bashir, 2015). Es erfordert aber auch eine ethisch fundierte Gestaltung, die Verantwortung nicht auf Algorithmen abschiebt, sondern das Zusammenspiel menschlicher und maschineller Intelligenz kultiviert.
Gestaltungshinweise für Entwickler und Manager
Aus psychologischer Sicht sollten Systeme nicht nur effizient, sondern auch verstehbar, steuerbar und anpassungsfähig sein. Die Prinzipien der nutzerzentrierten Gestaltung (ISO 9241-210) gelten weiter, doch müssen sie erweitert werden: um psychologische Modelle von Vertrauen, geteiltem Situationsbewusstsein und adaptiver Expertise. Manager wiederum sollten verstehen: KI ersetzt keine Kompetenz – sie verschiebt deren Profil. Wer Menschen entmündigt, sabotiert die eigene Resilienz.
Fazit
Der Weg von der Handarbeit zur Mensch-KI-Kollaboration ist mehr als ein technischer Fortschritt – er ist ein kultureller Lernprozess. Nur wenn wir verstehen, wie Menschen denken, fühlen, irren und lernen, können wir Systeme gestalten, die nicht nur funktionieren, sondern funktional für den Menschen sind. Und manchmal hilft dabei auch ein wenig Demut – denn die größten Systemfehler entstehen oft nicht in der Maschine, sondern zwischen den Ohren.
Literaturverzeichnis
Bainbridge, L. (1983). Ironies of automation. Automatica, 19(6), 775–779. https://doi.org/10.1016/0005-1098(83)90046-8
Bradshaw, J. M., Feltovich, P. J., & Johnson, M. (2013). Human-Agent Interaction. In W. S. Bainbridge (Ed.), Leadership in Science and Technology (pp. 1–20). Sage.
Dekker, S. (2011). Drift into failure: From hunting broken components to understanding complex systems. CRC Press.
Endsley, M. R. (2018). From here to autonomy: Lessons learned from human–automation research. Human Factors, 60(5), 597–614. https://doi.org/10.1177/0018720818755690
Hoff, K. A., & Bashir, M. (2015). Trust in automation: Integrating empirical evidence on factors that influence trust. Human Factors, 57(3), 407–434. https://doi.org/10.1177/0018720814547570
Hollnagel, E. (2012). FRAM: The functional resonance analysis method. Ashgate.
Norman, D. A. (1988). The Psychology of Everyday Things. Basic Books.
Parasuraman, R., & Riley, V. (1997). Humans and automation: Use, misuse, disuse, abuse. Human Factors, 39(2), 230–253. https://doi.org/10.1518/001872097778543886
Rahwan, I., Cebrian, M., Obradovich, N., Bongard, J., Bonnefon, J.-F., Breazeal, C., … Lazer, D. (2019). Machine behaviour. Nature, 568(7753), 477–486. https://doi.org/10.1038/s41586-019-1138-y
Reason, J. (1990). Human Error. Cambridge University Press.
Taylor, F. W. (1911). The Principles of Scientific Management. Harper & Brothers.
Marx, K. (2004). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1. Bd.). (Original erschienen 1867). MEW 23. Berlin: Dietz.