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Gefühlte Risiken – Wie kulturelle Deutungsmuster unsere Technikakzeptanz prägen: Warum manche Technologien gehypt, andere demonisiert werden

Die Einführung neuer Technologien ist nicht nur ein technischer oder wirtschaftlicher Vorgang, sondern stets auch ein psychologischer und kultureller Prozess. Ob eine Technologie als vielversprechender Fortschritt oder bedrohlicher Eingriff wahrgenommen wird, hängt dabei weniger von objektiven Risikodaten als vielmehr von individuellen Deutungsmustern und kollektiven Wahrnehmungen ab. Diese „gefühlten Risiken“ beeinflussen maßgeblich die öffentliche Akzeptanz und können sich selbst in hochentwickelten Gesellschaften dramatisch unterscheiden – wie die Beispiele Mobilfunk und Kernenergie eindrucksvoll belegen.


Psychologisch gesehen unterliegt die menschliche Risikowahrnehmung kognitiven Verzerrungen, wie sie in der Risikoforschung vielfach belegt sind (Slovic, 1987; Fischhoff et al., 1978). Menschen tendieren dazu, Risiken als bedrohlicher einzuschätzen, wenn sie neu, unsichtbar oder fremdbestimmt erscheinen – Merkmale, die viele moderne Technologien erfüllen. Hinzu kommt eine affektive Dimension: Bedrohungen, die emotional aufgeladen sind, erscheinen gefährlicher als nüchtern beschriebene Risiken (Loewenstein et al., 2001). Diese psychologische Dynamik lässt sich mit der von Mary Douglas und Aaron Wildavsky entwickelten „Kulturtheorie des Risikos“ verknüpfen, die betont, dass unterschiedliche soziale Gruppen Risiken in Abhängigkeit ihrer kulturellen Leitmotive bewerten (Douglas & Wildavsky, 1982).

Ein prominentes Beispiel für kulturell geprägte Risikowahrnehmung ist die Kernenergie. Während in Frankreich Kernkraftwerke als Zeichen technologischer Souveränität gelten, dominiert in Deutschland das Bild einer potenziell katastrophalen Hochrisikotechnologie, das sich durch die Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima weiter verfestigte. Die Angst vor „Ewigkeitslasten“ und nicht beherrschbaren Systemrisiken speist sich dabei nicht nur aus Fakten, sondern auch aus tiefen kulturellen Erzählungen über Schuld, Verantwortung und Naturbeherrschung.

Auch der Mobilfunk wurde bei seiner Einführung keineswegs euphorisch aufgenommen, sondern vielfach mit massiver Skepsis betrachtet. In den 1990er Jahren richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf mögliche gesundheitliche Risiken durch elektromagnetische Felder. Medienberichte über Tumorerkrankungen in der Nähe von Mobilfunkmasten und die Entstehung zahlreicher Bürgerinitiativen gegen Mobilfunkstandorte zeugen von einer stark emotionalisierten Debatte. Diese Kritik spiegelte klassische Merkmale des sogenannten „dread risk“ wider: Das Risiko wurde als unsichtbar, fremdbestimmt und langfristig unkontrollierbar empfunden – und daher besonders bedrohlich (Slovic, 1987).

Die heutige breite gesellschaftliche Akzeptanz des Mobilfunks lässt sich rückblickend als Ergebnis eines kulturellen Normalisierungsprozesses beschreiben. Ähnlich wie Douglas Adams in seinen humorvollen „Three Rules for Technology“ feststellt, ist Mobilfunk für jüngere Generationen zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswelt geworden. Was einst als gesundheitliche Bedrohung diskutiert wurde, erscheint heute als alltägliche Notwendigkeit. Der einst demonisierte Mobilfunk ist zum gehypten Innovationsfeld geworden – ein Transformationsprozess, der sich nicht aus Risikodaten, sondern aus veränderten kulturellen Deutungsmustern und positiven Alltagserfahrungen speist.

Zudem wird die soziale Konstruktion von Technologie durch mediale Rahmungen verstärkt. Begriffe wie „Strahlung“, „Restrisiko“ oder „digitaler Fortschritt“ sind nicht neutral, sondern transportieren emotionale und kulturelle Assoziationen. Die Technikakzeptanz ist damit kein Ergebnis rationaler Abwägung, sondern Ausdruck eines komplexen Zusammenspiels von Wahrnehmung, Emotion, sozialer Identität und kollektiver Erfahrung (Joffe, 2003; Kasperson et al., 1988).

Eine zukunftsorientierte Technikkommunikation muss daher nicht nur über Fakten aufklären, sondern auch kulturelle Deutungsmuster verstehen und reflektieren. Wer etwa Akzeptanz für neue Energietechnologien oder KI-Systeme schaffen möchte, muss die emotionale und soziale Resonanz der Technik mitdenken – und narrative Brücken schlagen zwischen individueller Lebenswelt und technischer Systemwelt.

Literaturverzeichnis (APA-Stil)

Adams, D. (1999). The Salmon of Doubt: Hitchhiking the Galaxy One Last Time. London: Macmillan.

Douglas, M., & Wildavsky, A. (1982). Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. University of California Press.

Fischhoff, B., Slovic, P., Lichtenstein, S., Read, S., & Combs, B. (1978). How Safe is Safe Enough? A Psychometric Study of Attitudes Towards Technological Risks and Benefits. Policy Sciences, 9(2), 127–152.

Joffe, H. (2003). Risk: From Perception to Social Representation. British Journal of Social Psychology, 42(1), 55–73. https://doi.org/10.1348/014466603763276126

Kasperson, R. E., Renn, O., Slovic, P., Brown, H. S., Emel, J., Goble, R., ... & Ratick, S. (1988). The Social Amplification of Risk: A Conceptual Framework. Risk Analysis, 8(2), 177–187.

Loewenstein, G. F., Weber, E. U., Hsee, C. K., & Welch, N. (2001). Risk as Feelings. Psychological Bulletin, 127(2), 267–286. https://doi.org/10.1037/0033-2909.127.2.267

Slovic, P. (1987). Perception of Risk. Science, 236(4799), 280–285. https://doi.org/10.1126/science.3563507

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