Schutzhelm trifft Kontrollraum – Warum integrierte Sicherheit mehr ist als die Summe technischer Maßnahmen
Sicherheitsmanagement in industriellen Prozessen wird häufig dual gedacht: auf der einen Seite der technische Schutz von Anlagen, auf der anderen Seite der gesundheitliche Schutz von Mitarbeitenden. Diese Trennung mag historisch gewachsen und regulatorisch nachvollziehbar sein, sie steht jedoch einer ganzheitlichen Sicherheitskultur im Weg. Der vorliegende Beitrag diskutiert die strukturellen Ursachen dieser Fragmentierung, beleuchtet psychologische Implikationen und zeigt Wege zur Integration auf Basis von Human-Factors-Prinzipien und ergonomischer Systemgestaltung.
Strukturelle Fragmentierung: Zwei Systeme, ein Ziel – aber getrennte Wege
Daten zu tödlichen und schweren Unfällen in Deutschland und der EU zeigen, dass sowohl im Bereich der Anlagensicherheit als auch im Arbeitsschutz signifikante Risiken bestehen. Dennoch sind Zuständigkeiten oft getrennt: Anlagensicherheit liegt in der Verantwortung technischer Abteilungen, Arbeitsschutz bei übergeordneten Stabsstellen. Diese institutionelle Spaltung führt zu widersprüchlichen Prioritäten, unklarer Verantwortungsverteilung und einer fragmentierten Sicherheitskultur.
Psychologische Perspektive: Fehler sind selten individuell – meist systemisch
Die Psychologie betrachtet Fehler als emergente Phänomene komplexer Mensch-Technik-Organisation-Systeme. Statt Schuldzuweisung ist eine systemische Analyse notwendig. Safety-II, Just Culture und Resilience Engineering bieten hier moderne Ansätze, in denen nicht der Fehler, sondern der Umgang mit Unsicherheit und Abweichung im Zentrum steht. Auch das Konzept des “vernünftigerweise erwartbaren Missbrauchs” in der neuen Maschinenverordnung (EU 2023/1230) betont die Notwendigkeit, menschliche Fehlhandlungen systematisch zu antizipieren.
Ergonomie als Brücke: Mensch, Technik, Organisation zusammendenken
Ergonomische Gestaltung – insbesondere kognitive Ergonomie und Interface-Design – verbindet technische Sicherheitsziele mit psychologischen Schutzfaktoren. So reduziert eine intuitiv bedienbare Benutzeroberfläche nicht nur Fehlhandlungen, sondern auch mentale Belastung. Konzepte wie die ISO 9241 oder Usability Heuristiken bieten praktikable Gestaltungsprinzipien. Ergonomie wirkt hier als Integratorin zwischen zwei Welten.
Von Silos zur Synergie: Integration durch Non-Technical Skills und geteilte Verantwortung
Die Etablierung interdisziplinärer Sicherheitsrunden, die gemeinsame Risikoanalyse unter MTO-Perspektive (Mensch-Technik-Organisation) sowie die Schulung in Non-Technical Skills wie Kommunikation, Rollenklärung und Entscheidungsstärke sind essenziell für eine nachhaltige Integration. Das Ziel: eine Sicherheitskultur, in der technische Robustheit und menschliche Resilienz gleichberechtigt verankert sind.
Fazit
Anlagensicherheit ohne Arbeitsschutz ist Technikfixierung. Arbeitsschutz ohne Anlagensicherheit ist Aktionismus. Ganzheitliche Sicherheit entsteht nur durch systemisches Denken, interdisziplinäre Kooperation und die konsequente Einbindung psychologischer und ergonomischer Erkenntnisse. Der Schutzhelm muss mit dem Kontrollraum sprechen – und umgekehrt.
Quellen (Auswahl):
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Europäische Maschinenverordnung 2023/1230, Rasmussen, J. (1997). Risk management in a dynamic society. Safety Science, 27(2-3), 183–213.