Der Ankereffekt gehört zu den kognitiven Verzerrungen, die unsere Urteilsbildung auf subtile, aber tiefgreifende Weise beeinflussen. Er beschreibt die Tendenz des menschlichen Gehirns, sich bei der Einschätzung von Zahlen oder Werten unbewusst an einem verfügbaren – häufig zufällig gewählten oder irrelevanten – Ausgangswert, dem sogenannten Anker, zu orientieren. Diese Orientierung erfolgt selbst dann, wenn der Anker offensichtlich keinen sachlichen Bezug zur Entscheidungssituation hat (Tversky & Kahneman, 1974).
In klassischer Weise zeigte sich dieser Effekt in einem vielzitierten Experiment von Critcher und Gilovich (2008): Besucher eines fiktiven Restaurants mit der Bezeichnung „Studio 97“ gaben im Schnitt 8 Dollar mehr aus als jene eines gleich gestalteten Restaurants mit dem Namen „Studio 17“. Die Zahl im Namen wirkte dabei als Anker und beeinflusste das Konsumverhalten – obwohl sie keinerlei Aussagekraft über Preisniveau oder Qualität des Restaurants hatte.
Die psychologischen Mechanismen hinter dem Ankereffekt lassen sich auf Top-Down-Prozesse der Informationsverarbeitung zurückführen. Das Gehirn ist bei Urteilsbildungen gezwungen, mit unvollständigen Informationen umzugehen. In der Folge greift es auf leicht verfügbare Informationen zurück, auch wenn diese objektiv irrelevant sind. Der Anker fungiert dabei als Startpunkt einer mentalen Schätzung, der – oft unbewusst – nicht ausreichend korrigiert wird.
Neuroökonomische Studien belegen, dass Ankerentscheidungen mit erhöhter Aktivität in Bereichen des medialen präfrontalen Cortex und des posterioren Parietallappens einhergehen – Regionen, die mit kognitiver Kontrolle und Zahlenschätzungen assoziiert sind (Engelmann & Hein, 2013).
Die praktische Bedeutung des Ankereffekts ist beträchtlich. In Preisverhandlungen, Gehaltsgesprächen, Gerichtsurteilen oder politischen Debatten ist derjenige im Vorteil, der frühzeitig einen überzeugenden Anker setzt. Selbst Richter, die sich in ihrem Urteil als rational verstehen, zeigen systematische Abweichungen, wenn ihnen zuvor hohe oder niedrige Forderungen suggeriert wurden (Englich et al., 2006).
Aus arbeitspsychologischer Sicht stellt der Ankereffekt eine Herausforderung für faire Entscheidungsprozesse dar. Führungskräfte und Teams sind gut beraten, sich dieses Effekts bewusst zu werden und ihre Entscheidungsfindung durch strukturierte, faktenbasierte Kriterien abzusichern – etwa durch anonymisierte Bewertungsverfahren oder externe Benchmarks.
Quellen:
Critcher, C. R., & Gilovich, T. (2008). Incidental environmental anchors. Journal of Behavioral Decision Making, 21(3), 241–251. https://doi.org/10.1002/bdm.586
Engelmann, J. B., & Hein, G. (2013). Anchoring effects in judgment and decision-making: Evidence from neuroimaging. Handbook of Neuroeconomics, 2, 193–203.
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2006). Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts’ judicial decision making. Personality and Social Psychology Bulletin, 32(2), 188–200. https://doi.org/10.1177/0146167205282152
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science, 185(4157), 1124–1131. https://doi.org/10.1126/science.185.4157.1124