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Gesellschaftliche Veränderungserschöpfung und die Krise der Fortschrittserzählung. Psychologische Perspektiven auf eine überforderte Moderne

Moderne Gesellschaften sind durch einen tiefgreifenden und anhaltenden Wandel gekennzeichnet. Technologischer Fortschritt, ökonomische Globalisierung, demografische Verschiebungen, ökologische Krisen und politische Umbrüche verändern soziale Strukturen, Arbeitswelten und individuelle Lebensverläufe in hoher Geschwindigkeit. Während Wandel historisch kein neues Phänomen ist, verdichten sich gegenwärtig Umfang, Taktung und Gleichzeitigkeit von Veränderungen in einer Weise, die für Individuen und Gesellschaften zunehmend schwer integrierbar erscheint. In diesem Kontext wird immer häufiger von einer gesellschaftlichen „Veränderungserschöpfung“ gesprochen, die eng mit einer Krise der klassischen Fortschrittserzählung verknüpft ist.


Der Begriff der Veränderungserschöpfung beschreibt einen psychologischen Zustand kollektiver Überforderung, der entsteht, wenn kontinuierlicher Wandel nicht mehr als gestaltbar, sondern als überwältigend, fremdbestimmt und kaum noch bewältigbar erlebt wird. Im Unterschied zu kurzfristigem Stress oder akuten Krisenreaktionen handelt es sich dabei um einen chronischen Zustand, der durch das Gefühl gekennzeichnet ist, dauerhaft hinter den Anforderungen gesellschaftlicher Entwicklung zurückzubleiben. Empirische Studien zeigen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung den sozialen Wandel als zu schnell, zu komplex und persönlich nicht mehr anschlussfähig erlebt, was mit Resignation, Rückzug und wachsender Zukunftsskepsis einhergeht (Mau, 2021; Rosa, 2016).

Psychologisch lässt sich Veränderungserschöpfung als Ergebnis mehrerer ineinandergreifender Mechanismen verstehen. Auf individueller Ebene spielt die begrenzte kognitive und emotionale Verarbeitungskapazität eine zentrale Rolle. Menschen benötigen relative Stabilität, Routinen und verlässliche Erwartungsstrukturen, um Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Wird Veränderung als permanent erlebt, ohne Phasen der Konsolidierung, steigt die Wahrscheinlichkeit von Kontrollverlust, Entscheidungsparalyse und emotionaler Erschöpfung. Konzepte wie Entscheidungsüberlastung, Zukunftsangst und erlernte Hilflosigkeit bieten hier wichtige Erklärungsansätze (Baumeister et al., 2008; Seligman, 1975).

Auf sozialer Ebene ist Veränderungserschöpfung ungleich verteilt. Menschen mit geringerem sozioökonomischem Status, begrenztem Bildungskapital oder instabilen Erwerbsbiografien verfügen über weniger Ressourcen, um sich an neue Anforderungen anzupassen. Für sie bedeutet Wandel häufig nicht Chance, sondern Bedrohung. Empirisch zeigt sich, dass Zukunftspessimismus, Fatalismus und politische Entfremdung besonders dort ausgeprägt sind, wo Handlungsspielräume strukturell eingeschränkt sind (Bourdieu, 1998; Mau, 2021). Veränderungserschöpfung ist damit nicht primär ein individuelles Defizit, sondern Ausdruck sozialer Ungleichheit.

Eng verbunden mit dieser Entwicklung ist die Krise der Fortschrittserzählung. Die klassische Fortschrittserzählung der Moderne basierte auf der Annahme, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und politische Rationalisierung langfristig zu mehr Wohlstand, Sicherheit und individueller Freiheit führen würden. Diese Erzählung wirkte über Jahrzehnte identitätsstiftend und handlungsleitend, sowohl individuell als auch kollektiv. Sie legitimierte Zumutungen der Gegenwart durch das Versprechen einer besseren Zukunft (Koselleck, 2003).

In den letzten Jahrzehnten hat diese Erzählung jedoch erheblich an Glaubwürdigkeit verloren. Zum einen sind viele Fortschrittseffekte ambivalent geworden. Technologische Innovationen erzeugen nicht nur Effizienzgewinne, sondern auch neue Abhängigkeiten, Kontrollverluste und soziale Spaltungen. Digitalisierung und künstliche Intelligenz werden zugleich als Produktivitätsmotoren und als Bedrohung für Autonomie, Privatsphäre und Beschäftigung erlebt. Zum anderen haben ökologische Grenzen, globale Krisen und geopolitische Konflikte die Vorstellung eines linearen, stetigen Fortschritts untergraben. Zukunft erscheint nicht mehr als automatisch besser, sondern als riskant und potenziell schlechter als die Gegenwart (Beck, 1986; Reckwitz, 2019).

Psychologisch relevant ist dabei, dass negative Zukunftsbilder eine stärkere emotionale Wirkung entfalten als positive. Dystopische Szenarien aktivieren Angst, Kontrollbedürfnis und Rückzugsverhalten, während abstrakte Fortschrittsversprechen an motivationaler Kraft verlieren. Die Dominanz von Krisennarrativen kann kurzfristig mobilisierend wirken, langfristig jedoch zur Ermüdung und Abstumpfung führen. In der Forschung wird zunehmend darauf hingewiesen, dass eine einseitige Fixierung auf Risiken und Schadensvermeidung gesellschaftliche Handlungsfähigkeit untergräbt, wenn keine positiven Zielbilder mehr existieren, die Orientierung und Sinn stiften (Reckwitz, 2021).

Die Krise der Fortschrittserzählung ist daher nicht nur ein kulturelles oder politisches Phänomen, sondern auch ein psychologisches. Ohne glaubwürdige Zukunftsbilder fehlt ein zentraler Motivationsanker für individuelles und kollektives Engagement. Zukunft wird dann nicht mehr als gestaltbarer Möglichkeitsraum erlebt, sondern als Bedrohung, der man sich bestenfalls defensiv entzieht. Diese Haltung begünstigt politische Polarisierung, autoritäre Sehnsüchte und die Abwertung komplexer Lösungsansätze zugunsten vermeintlich einfacher Antworten.

Aus psychologischer Perspektive ergibt sich daraus eine zentrale Herausforderung für moderne Gesellschaften. Es geht weniger darum, neue große Utopien oder umfassende Masterpläne zu entwerfen, als vielmehr darum, Bedingungen für erfahrbare Selbstwirksamkeit zu schaffen. Forschung zur Motivation und Resilienz zeigt, dass Menschen auch unter Unsicherheit handlungsfähig bleiben, wenn sie Einflussmöglichkeiten erleben, soziale Unterstützung erfahren und Sinn in ihrem Handeln erkennen können (Bandura, 1997; Ryan & Deci, 2000). Zukunftsfähigkeit entsteht somit nicht primär durch Prognosesicherheit, sondern durch Vertrauen in die eigene und kollektive Gestaltungskraft.

Gesellschaftliche Veränderungserschöpfung und die Krise der Fortschrittserzählung verweisen letztlich auf ein Missverhältnis zwischen Veränderungsdynamik und Integrationsfähigkeit. Psychologisch nachhaltiger Wandel erfordert nicht nur Innovation, sondern auch Phasen der Stabilisierung, Verständigung und gemeinsamen Sinnstiftung. Ohne diese Elemente droht die Zukunft zu einem Projekt zu werden, das zwar permanent diskutiert, aber innerlich nicht mehr mitgetragen wird.

Literatur 


Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman.

Baumeister, R. F., Vohs, K. D., Tice, D. M. (2008). The strength model of self-control. Current Directions in Psychological Science, 16(6), 351–355.

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, P. (1998). Prekarität ist überall. Konstanz: UVK.

Koselleck, R. (2003). Vergangene Zukunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mau, S. (2021). Triggerpunkte. Berlin: Suhrkamp.

Reckwitz, A. (2019). Das Ende der Illusionen. Berlin: Suhrkamp.

Reckwitz, A. (2021). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, H. (2016). Resonanz. Berlin: Suhrkamp.

Ryan, R. M., Deci, E. L. (2000). Intrinsic and extrinsic motivations. Contemporary Educational Psychology, 25(1), 54–67.


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