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Wenn die Techlords im Wohnzimmer sitzen

Harald wollte eigentlich nur gemütlich auf dem Sofa sitzen und ein Stück Streuselkuchen essen, als plötzlich ein dezentes Pling ertönte. Es war das Pling, das moderne Menschen zwar schon tausendmal gehört, aber nie vollständig verarbeitet haben. Es klang nach neuem Paket, neuer Nachricht, neuer Weltherrschaft.


„Amazon“, murmelte Harald, „du schon wieder?“


Er öffnete die Haustür – niemand da. Nur ein Paket. Darauf stand:

„Vorsicht: enthält algorithmische Optimierung. Nicht schütteln.“


Harald trug es ins Wohnzimmer, setzte sich wieder hin und beschloss, den Streuselkuchen notfalls gegen die algorithmische Optimierung zu verteidigen.


Kaum öffnete er den Karton, sprang ein kleiner, glänzender Würfel heraus und setzte sich selbstbewusst mitten auf den Wohnzimmertisch.


„Guten Abend“, sagte der Würfel. „Ich bin Ihr persönlicher Convenience-Enhancer. Ich optimiere alles. Immer.“


„Ich wollte nur Kuchen essen“, antwortete Harald vorsichtig.


„Hervorragende Entscheidung“, sagte der Würfel. „Ich werde Ihnen nun den optimalen Bissen vorschlagen. Bitte halten Sie Gabel und Kuchen bereit.“


Harald legte die Gabel weg.


„Ich mache das seit über fünfzig Jahren selbst.“


„Das System hat leichte Irritationen erkannt“, antwortete der Würfel tonlos. „Möchten Sie einen Beruhigungstee? Er wurde soeben automatisch bestellt. Lieferzeit: zwölf Minuten.“


In diesem Moment meldete sich das zweite Gerät zu Wort, das sich offenbar im Paket versteckt hatte, ein längliches Stäbchen mit einer Bildschirmoberfläche, das wie eine Kreuzung aus Selfiestick und Oberstudienrat wirkte.


„Ich bin Ihr Metadaten-Verbesserungsbeauftragter“, sagte es streng. „Ich überwache, dokumentiere und kommentiere Ihr Zusammenspiel mit dem Convenience-Enhancer.“


„Das brauche ich nicht.“


„Widerspruch erkannt“, sagte das Stäbchen. „Sie sind jetzt im Coaching-Modus.“


Harald wollte gerade etwas erwidern, als es Pling machte. Diesmal vom Handy.


Facebook (Meta): „Wir haben gehört, Sie hätten mit technologischen Assistenzsystemen kommuniziert. Möchten Sie diese Erfahrung emotional teilen? Oder speichern wir sie zunächst in Ihrem digitalen Ich?“


Kurz darauf vibrierte es erneut.


Amazon: „Ihr Tee ist unterwegs. Als weitere Handlungsempfehlung schlagen wir Ihnen ein Abo für Gelassenheit vor. Sie scheinen Bedarf zu haben.“


Harald rieb sich die Stirn.


Fünf Sekunden später startete der Würfel einen neuen Optimierungszyklus.


„Ich habe Ihre Gesichtsregung analysiert“, sagte der Würfel. „Sie sind nicht vollständig zufrieden. Darf ich Ihnen eine passende Lebensentscheidung vorschlagen?“


„Nein!“


„Widerspruch erkannt“, meldete das Stäbchen wieder. „Bitte setzen Sie sich gerade hin und atmen Sie algorithmisch.“


Harald schnappte sich schließlich den Würfel, das Stäbchen und sein Handy und trug sie alle nach draußen. Er stellte sie nebeneinander vor die Tür.


„Ich mache jetzt digitale Fastenpause“, sagte er entschlossen und ging zurück ins Wohnzimmer.


Kaum hatte er sich gesetzt, klingelte es erneut.


Ein Zettel steckte im Briefkasten:


„Wir haben Ihre Interaktion beobachtet. Herzlichen Glückwunsch: Sie haben das Premium-Level ‘Autonome Entscheidung’ freigeschaltet.

Bitte loggen Sie sich ein.“


Harald schloss die Augen und nahm endlich den ersten Bissen Streuselkuchen.

Er schmeckte fantastisch.

Ganz ohne Optimierung.



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