Direkt zum Hauptbereich

Keine Sicherheitspolitik ohne Psychologie!

Die sicherheitspolitische Politikberatung, wie sie Karl-Heinz Kamp im vorliegenden Arbeitspapier (Kamp, 2025) beschreibt, steht exemplarisch für die Komplexität der Beziehungen zwischen politischen Entscheidungsträgern, wissenschaftlichen Experten und der breiten Öffentlichkeit. Obwohl Kamp die Herausforderungen, Defizite und notwendigen Verbesserungen überzeugend und nachvollziehbar skizziert, fehlt eine entscheidende Betrachtungsebene: die psychologische Dynamik, die alle Beteiligten maßgeblich prägt. Ohne ein tiefgehendes Verständnis dieser psychologischen Mechanismen kann eine erfolgreiche Sicherheitspolitik letztlich nicht gewährleistet werden – eine These, die sich zusammenfassend so zuspitzen lässt: Es gibt keine effektive Sicherheitspolitik ohne Psychologie.

Zunächst zeigt das Arbeitspapier anschaulich, wie politische Entscheidungsprozesse vielfach nicht rein rational, sondern häufig von menschlichen Faktoren wie Wahrnehmungsverzerrungen, Gruppendynamiken und individuellen Denkstilen beeinflusst werden. Diese psychologischen Mechanismen prägen sowohl die Wahrnehmung von Expertenwissen als auch die Bereitschaft, externes Wissen überhaupt anzunehmen. Kamp beschreibt beispielsweise, dass sich politische Akteure häufig dagegen sträuben, Ratschläge anzunehmen, insbesondere wenn diese Ratschläge nicht in bestehende politische Konzepte passen oder persönliche Überzeugungen infrage stellen. Dieses Phänomen lässt sich psychologisch durch kognitive Dissonanz erklären – eine Spannung, die entsteht, wenn neue Informationen im Widerspruch zu bestehenden Überzeugungen stehen, und die oftmals zur Ablehnung der betreffenden Informationen führt (Festinger, 1957).

Gleichzeitig zeigen sich psychologische Herausforderungen auch auf der Seite der Expertinnen und Experten. Kamp spricht von einem häufig vorhandenen Kommunikationsproblem zwischen wissenschaftlichen Institutionen und der operativen Politik, das aus mangelndem Verständnis für die Bedürfnisse der Adressaten resultiert. Psychologisch betrachtet, fehlt es hier häufig an Empathie und Perspektivenübernahme – elementaren Kompetenzen, die notwendig sind, um die Erwartungen und Bedürfnisse des Gegenübers adäquat einschätzen und berücksichtigen zu können (Davis, 1994). Wenn wissenschaftliche Beratung ohne Sensibilität für die mentalen Modelle und Realitätswahrnehmungen der politischen Entscheider geschieht, scheitert sie zwangsläufig an deren psychologischen Abwehrmechanismen und Frustrationsschwellen.

Hinzu kommen gruppendynamische Faktoren und organisationspsychologische Effekte innerhalb der Ministerien selbst. Wie Kamp erläutert, fördern bürokratische Prozesse, etwa umfangreiche Mitzeichnungsrunden und ausgeprägte hierarchische Strukturen, eine Risikoaversion, die dazu führt, dass externe, unkonventionelle Ratschläge eher abgelehnt werden. Organisationale Trägheit und gruppenpsychologische Effekte wie „Groupthink“ – die Neigung von Gruppen, in geschlossener Form selbst fehlerhafte Entscheidungen zu bestätigen (Janis, 1972) – erklären, warum Ministerien häufig auf „Nummer sicher“ gehen und Ratschläge ignorieren, die nicht konsensfähig oder organisationsintern abgestimmt sind.

Auch die Öffentlichkeit als Adressat von sicherheitspolitischer Expertise unterliegt psychologischen Dynamiken. So beschreibt Kamp, wie schwierig es ist, komplizierte sicherheitspolitische Zusammenhänge allgemeinverständlich zu vermitteln. Kommunikationspsychologische Mechanismen, wie selektive Wahrnehmung oder der Confirmation Bias – also das Phänomen, bevorzugt solche Informationen aufzunehmen, die bereits vorhandene Einstellungen bestätigen (Nickerson, 1998) –, stellen für Experten eine erhebliche Herausforderung dar. Diese psychologischen Barrieren sind nur überwindbar, wenn Experten lernen, Informationen so aufzubereiten, dass sie emotional und kognitiv für das Publikum zugänglich werden.

Das Papier skizziert auch die Notwendigkeit eines Mentalitätswechsels in Ministerien wie dem Bundesministerium der Verteidigung. Ein solcher Wandel jedoch kann kaum allein durch politische Entscheidungen oder organisatorische Umstrukturierungen erreicht werden. Er erfordert vielmehr eine bewusste psychologische Intervention und langfristige kulturelle Veränderungen innerhalb der Organisationen. Kulturelle Veränderungen setzen jedoch ein tiefgehendes Verständnis darüber voraus, wie Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen entstehen, stabilisiert und verändert werden – Kernkompetenzen der Organisationspsychologie (Schein & Schein, 2016).


Abschließend wird deutlich, dass sicherheitspolitische Entscheidungsfindung nicht rein technokratisch funktionieren kann. Menschliche Urteils- und Entscheidungsprozesse sind stets durch soziale und kognitive Einflüsse verzerrt und bedürfen daher zwingend psychologischer Begleitung und Beratung. Ohne das Wissen um psychologische Faktoren sind Politik und Wissenschaft letztlich unfähig, effektive, belastbare und gesellschaftlich akzeptierte Lösungen für sicherheitspolitische Herausforderungen zu entwickeln. Die Schlussfolgerung daraus lautet unmissverständlich: Es gibt keine Sicherheitspolitik ohne Psychologie.

Quellen
Davis, M. H. (1994). Empathy: A social psychological approach. Westview Press.
Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.
Janis, I. L. (1972). Victims of groupthink: A psychological study of foreign-policy decisions and fiascoes. Houghton Mifflin.
Kamp, K.-H. (2025). Bringschuld auf allen Seiten: Sicherheitspolitische Politikberatung in der zweiten Zeitenwende. Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 2/2025, Bundesakademie für Sicherheitspolitik. https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2025_2.pdf  
Nickerson, R. S. (1998). Confirmation bias: A ubiquitous phenomenon in many guises. Review of General Psychology, 2(2), 175–220.
Schein, E. H., & Schein, P. (2016). Organizational Culture and Leadership (5th ed.). Wiley.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die Psychologie und Soziologie des Wartens, der Pünktlichkeit und der Ungeduld

Warten, Pünktlichkeit und Ungeduld sind universelle menschliche Erfahrungen, die stark von kulturellen, sozialen und psychologischen Faktoren geprägt sind. In einer immer schnelllebigeren Welt wird das Warten oft als unangenehme Unterbrechung wahrgenommen, während Pünktlichkeit als Tugend gilt und Ungeduld zunehmend zum Ausdruck von Stress und Zeitdruck wird. Dieser Artikel untersucht die psychologischen und soziologischen Mechanismen, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, und beleuchtet ihre kulturelle Dimension. Psychologie des Wartens Das Warten ist eine Erfahrung, die sowohl mit negativen Emotionen wie Frustration und Stress als auch mit positiven wie Vorfreude verbunden sein kann. Die Wahrnehmung von Wartezeiten wird durch Faktoren wie Unsicherheit, Kontrolle und die soziale Umgebung beeinflusst (Maister, 1985). Studien zeigen, dass Unsicherheit über die Dauer oder das Ergebnis eines Wartens die emotionale Belastung verstärkt (Larson, 1987). Die Psychologie des Wartens beto...

Psychologische Aspekte und der Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf Open Innovation Einleitung

Der Begriff „Open Innovation“ beschreibt den Prozess, bei dem Unternehmen externe und interne Wissensquellen strategisch nutzen, um Innovationen zu fördern. Das Konzept, das auf Henry Chesbrough zurückgeht, erweitert das traditionelle Innovationsmanagement und integriert Wissen von Lieferanten, Partnern, Kunden und externen Quellen. Diese Offenheit erhöht das Innovationspotenzial, erfordert jedoch auch tiefgreifende Veränderungen in den Organisationsstrukturen und stellt das Unternehmen vor psychologische Herausforderungen. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Open Innovation ermöglicht zudem neue Perspektiven und hebt den Innovationsprozess auf eine neue Ebene. Psychologische Aspekte von Open Innovation 1. Motivation und Widerstände Ein entscheidender psychologischer Faktor bei der Implementierung von Open Innovation ist die Motivation der Mitarbeitenden. Traditionell wurde Innovation als ein interner Prozess betrachtet, bei dem nur die klügsten Köpfe innerhalb des Unterneh...

Der Barnum-Effekt – Psychologische Mechanismen selektiver Selbsttäuschung

Der Barnum-Effekt beschreibt die Tendenz von Menschen, unspezifische und allgemein gehaltene Aussagen über ihre Persönlichkeit als zutreffend zu akzeptieren. Dieser Effekt spielt eine zentrale Rolle in der Erklärung, warum Menschen an pseudowissenschaftliche Verfahren wie Horoskope, Graphologie oder bestimmte Persönlichkeitstests glauben. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die kognitiven, affektiven und sozialen Mechanismen hinter dem Effekt, diskutiert seine empirische Basis und zeigt Implikationen für Beratung, Diagnostik und KI-gestützte Systeme auf. 1. Einleitung „Sie sind eher introvertiert, schätzen jedoch gute Gespräche. Manchmal zweifeln Sie an sich, wirken nach außen aber sicher.“ – Aussagen wie diese erscheinen individuell, treffen jedoch statistisch auf fast jede Person zu. Der Barnum-Effekt – benannt nach dem amerikanischen Zirkusunternehmer P. T. Barnum, der angeblich „für jeden etwas“ im Programm hatte – beschreibt genau dieses psychologische Phänomen. Ursprünglich wur...