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Safety Integrity Level (SIL) und menschliche Zuverlässigkeit

Das Konzept der Safety Integrity Level (SIL) stammt ursprünglich aus der funktionalen Sicherheit und wird hauptsächlich auf technische Systeme angewendet, insbesondere in der Industrieautomation und der Prozesssteuerung. Es dient dazu, das Risiko technischer Ausfälle zu bewerten und Sicherheitsmaßnahmen zu implementieren, die das Risiko auf ein akzeptables Niveau reduzieren. Die Anwendung des SIL-Konzepts auf menschliche Fehler ist herausfordernd, jedoch nicht ausgeschlossen. Im Folgenden werden die Hauptaspekte der Anwendung des SIL-Konzepts auf menschliche Fehler beleuchtet.


1. Unterschiedliche Natur von technischen und menschlichen Fehlern


Technische Systeme haben eine fest definierte Fehlerwahrscheinlichkeit, die relativ präzise berechnet werden kann, basierend auf Komponentenfehlern und Ausfallraten. Menschliche Fehler hingegen sind durch eine hohe Variabilität geprägt, die von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird, darunter:

Arbeitsbelastung und Stressniveau,

Erfahrung und Training,

Aufmerksamkeit und Müdigkeit,

organisatorische Bedingungen.


Diese Faktoren führen zu einer größeren Unsicherheit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit menschlicher Fehler, was es schwieriger macht, sie im Sinne des SIL-Konzepts zu quantifizieren.


2. SIL als Konzept der risikoreduzierenden Maßnahmen


Das SIL-Konzept setzt sich aus unterschiedlichen Stufen zusammen, die jeweils ein bestimmtes Risikoniveau für den Betrieb sicherheitskritischer Systeme festlegen. In technischer Hinsicht erfordert jede SIL-Stufe eine bestimmte Zuverlässigkeit in der Ausführung sicherheitsrelevanter Funktionen. In der Praxis wird dies durch redundante Systeme, Selbsttests und Fehlerbehebungsmechanismen erreicht.


Für menschliche Fehler bedeutet das, dass man ähnliche Prinzipien der Risikominderung anwenden könnte. Beispielsweise könnten Maßnahmen wie verbesserte Schulungen, klare Prozeduren und Checklisten, regelmäßige Pausen zur Vermeidung von Ermüdung sowie die Gestaltung ergonomisch sicherer Arbeitsumgebungen als “menschliche SIL-Stufen” betrachtet werden. Sie zielen darauf ab, die Wahrscheinlichkeit menschlicher Fehler zu reduzieren und die Gesamtsicherheit zu erhöhen.


3. Quantitative und qualitative Bewertung menschlicher Fehler


Während SIL auf technischen Systemen basiert, die eine quantitative Bewertung ermöglichen (z. B. in Form von Mean Time Between Failures, MTBF), wird die quantitative Bewertung menschlicher Fehler als „Human Reliability Assessment (HRA)“ in der Arbeitspsychologie verwendet. Methoden wie die Human Error Probability (HEP) oder spezifische HRA-Methoden (z. B. THERP, CREAM) versuchen, Fehlerwahrscheinlichkeiten für verschiedene Aufgaben und Kontexte zu berechnen. Es ist denkbar, dass menschliche Fehlerwahrscheinlichkeiten in ein SIL-System integriert werden könnten, wobei die Fehlerwahrscheinlichkeit des Menschen in die Zuverlässigkeitsberechnung einfließt.


4. Safety Integrity Level als Ansatz der Sicherheitskultur


Der SIL-Ansatz könnte auch im Rahmen der Sicherheitskultur verwendet werden. Hier geht es darum, Verhaltensweisen und Einstellungen zu fördern, die Sicherheitsrisiken minimieren. Ansätze wie Safety-II und Just Culture, die auf Fehlermanagement und kontinuierliche Verbesserung abzielen, könnten mit dem SIL-Konzept kombiniert werden, um eine „menschliche Sicherheitsintegrität“ zu schaffen.


Die Anwendung von SIL auf menschliche Fehler bedeutet demnach eine Verschiebung von einer rein technischen Bewertung zu einem ganzheitlicheren Ansatz. Dieser Ansatz berücksichtigt die Interaktion zwischen Mensch und Technik sowie organisatorische Rahmenbedingungen und ist mit einem umfassenden Sicherheitsmanagementansatz kombinierbar.

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