Direkt zum Hauptbereich

Unbestimmtheit und Komplexität

Globalisierung und Digitalisierung führen dazu, dass die Unbestimmtheit und Komplexität unsere Welt immer weiter zunimmt. Unbestimmte und komplexe Lagen weisen eine Reihe von Merkmalen auf, die in der Literatur (Dörner, 1979, 1989; Dörner, 1983; Funke, 2003; Hussy, 1998; Schaub, 1993) als Faktoren genannten werden, die Menschen besondere Schwierigkeiten beim Handeln und Entscheiden  und damit indirekt zu Denk- und Entscheidungsfehlern führen können.


Komplexität: Es gibt eine große Anzahl von Variablen, die alle wichtig sind und beachtet werden müssen. Da das in begrenzter Zeit nicht möglich ist, sollten Einsatz- und Führungskräfte im Krisenmanagement auswählen und Schwerpunkte bilden. Mögliche Denk- und Entscheidungsfehler resultieren aus dem inadäquaten Umgang mit der Schwerpunktbildung (entweder zu rigide an einem Schwerpunkt festhalten oder keinen Schwerpunkt bilden).

Vernetztheit: Die Variablen einer Lage beeinflussen sich wechselseitig. In einem vernetzten System kann kaum nur eine Sache gemacht werden. Ein vernetztes System gleicht einer Sprungfedermatratze. Wird die Matratze an einer Stelle bewegt, dann wackelt es an vielen anderen Stellen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, beim Entscheiden Neben- und Fernwirkungen zu beachten. Mögliche Denk- und Handlungsfehler resultieren vor allem aus dem Nichtbeachten von Neben- und Fernwirkungen und dem ausschließlichen Berücksichtigen der Hauptwirkung (von der Weth, 1990).

Dynamik: Ein eigendynamisches System verändert sich selbst auch ohne direkte Eingriffe des Entscheiders. Die Dynamik ergibt sich oft aus der Vernetztheit, z.B. wenn diese aus positiven und negativen Rückkopplungen besteht. Aus der Eigendynamik entsteht häufig Zeitdruck und die Notwendigkeit der Prognose der Zukunft. Mögliche Denk- und Handlungsfehler resultieren aus keinen oder falschen Prognose. So werden typischerweise exponentielle Entwicklungen nur linear extrapoliert (Dörner, 1981; Dörner, 1983; Fenk & Vanoucek, 1992; Preussler, 1985).

Intransparenz: Die meisten komplexen Lagen sind nicht vollständig durchschaubar. Es gibt oft Bestandteile der Situation, die eigentlich beachtet werden müssten, die aber nicht zugänglich sind. Der Entscheider muss sich ein Modell der Situation bilden und ist auf die Verwendung von Indikatoren angewiesen. Mögliche Denk- und Handlungsfehler resultieren aus der Verwendung falscher Indikatoren, oder zu stark simplifizierter Modelle (Brunner & Stäudel, 1992; Ossimitz, 2000).

Polytelie: Das Handeln ist in der Regel auf mehr als ein Ziel hin ausgerichtet. In komplexen Lagen sollten und werden z.B. oft humanitäre, ökonomische, ökologische aber auch persönliche Ziele gleichzeitig verfolgt. Viele dieser Ziele sind nicht miteinander verträglich, d.h. sie widersprechen sich. Aus dieser Tatsache leitet sich die Notwendigkeit ab, Ziele zu balancieren und zu hierarchisieren. Ziele in komplexen Lagen können oft nur vage formuliert werden, z.B. als Komparative; etwas soll besser, schneller, günstiger werden (dialektische Probleme. s.h. Dörner, 1987). Wie das zu erreichende Ziel konkret aussehen soll, ist häufig unklar. Unklare Ziele erschweren das Handeln, da sich aus ihnen kaum ergibt, welche Maßnahmen zielführend sind und welche nicht. Der Entscheider sollte seine Ziele konkretisieren und Teil- und Zwischenziele bilden (Newell & Simon, 1963; Oesterreich, 1983; Resch & Oesterreich, 1987; von der Weth, 1990). Mögliche Denk- und Handlungsfehler resultieren u.a. daraus, dass Ziele nicht konkretisiert werden, und damit Zielwidersprüche und -inkompatibilitäten nicht erkannt werden.

Neuartigkeit: Viele Bereiche in komplexen Lagen sind, zumindest zum Teil, neuartig. Die Einsatz- und Führungskraft im Krisenmanagement kennt ihre Strukturen nicht und sollte versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Aus der Neuartigkeit eines Bereichs ergibt sich die Anforderung zur Erkundung desselben, zur Hypothesenbildung und zur Exploration. Mögliche Problemlösefehler resultieren aus dem Nichterkennen der Neuartigkeit und aus einer reduzierten Hypothesenbildung (Harzl, 1994; Keinath, 2003; Krems & Bachmaier, 1991).


(Literatur und Referenzen beim Autor: harald.schaub@googlemail.com)


Beliebte Posts aus diesem Blog

Die Psychologie und Soziologie des Wartens, der Pünktlichkeit und der Ungeduld

Warten, Pünktlichkeit und Ungeduld sind universelle menschliche Erfahrungen, die stark von kulturellen, sozialen und psychologischen Faktoren geprägt sind. In einer immer schnelllebigeren Welt wird das Warten oft als unangenehme Unterbrechung wahrgenommen, während Pünktlichkeit als Tugend gilt und Ungeduld zunehmend zum Ausdruck von Stress und Zeitdruck wird. Dieser Artikel untersucht die psychologischen und soziologischen Mechanismen, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, und beleuchtet ihre kulturelle Dimension. Psychologie des Wartens Das Warten ist eine Erfahrung, die sowohl mit negativen Emotionen wie Frustration und Stress als auch mit positiven wie Vorfreude verbunden sein kann. Die Wahrnehmung von Wartezeiten wird durch Faktoren wie Unsicherheit, Kontrolle und die soziale Umgebung beeinflusst (Maister, 1985). Studien zeigen, dass Unsicherheit über die Dauer oder das Ergebnis eines Wartens die emotionale Belastung verstärkt (Larson, 1987). Die Psychologie des Wartens beto...

Psychologische Aspekte und der Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf Open Innovation Einleitung

Der Begriff „Open Innovation“ beschreibt den Prozess, bei dem Unternehmen externe und interne Wissensquellen strategisch nutzen, um Innovationen zu fördern. Das Konzept, das auf Henry Chesbrough zurückgeht, erweitert das traditionelle Innovationsmanagement und integriert Wissen von Lieferanten, Partnern, Kunden und externen Quellen. Diese Offenheit erhöht das Innovationspotenzial, erfordert jedoch auch tiefgreifende Veränderungen in den Organisationsstrukturen und stellt das Unternehmen vor psychologische Herausforderungen. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Open Innovation ermöglicht zudem neue Perspektiven und hebt den Innovationsprozess auf eine neue Ebene. Psychologische Aspekte von Open Innovation 1. Motivation und Widerstände Ein entscheidender psychologischer Faktor bei der Implementierung von Open Innovation ist die Motivation der Mitarbeitenden. Traditionell wurde Innovation als ein interner Prozess betrachtet, bei dem nur die klügsten Köpfe innerhalb des Unterneh...

Der Barnum-Effekt – Psychologische Mechanismen selektiver Selbsttäuschung

Der Barnum-Effekt beschreibt die Tendenz von Menschen, unspezifische und allgemein gehaltene Aussagen über ihre Persönlichkeit als zutreffend zu akzeptieren. Dieser Effekt spielt eine zentrale Rolle in der Erklärung, warum Menschen an pseudowissenschaftliche Verfahren wie Horoskope, Graphologie oder bestimmte Persönlichkeitstests glauben. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die kognitiven, affektiven und sozialen Mechanismen hinter dem Effekt, diskutiert seine empirische Basis und zeigt Implikationen für Beratung, Diagnostik und KI-gestützte Systeme auf. 1. Einleitung „Sie sind eher introvertiert, schätzen jedoch gute Gespräche. Manchmal zweifeln Sie an sich, wirken nach außen aber sicher.“ – Aussagen wie diese erscheinen individuell, treffen jedoch statistisch auf fast jede Person zu. Der Barnum-Effekt – benannt nach dem amerikanischen Zirkusunternehmer P. T. Barnum, der angeblich „für jeden etwas“ im Programm hatte – beschreibt genau dieses psychologische Phänomen. Ursprünglich wur...