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Künstliche Intelligenz in der Anlagen- und Prozesstechnik: Auswirkungen auf Sicherheitstechnik und Mensch-Technik-Interaktion

Abstract Die Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) in der Anlagen- und Prozesstechnik revolutioniert nicht nur die Steuerung und Überwachung technischer Systeme, sondern transformiert auch die Mensch-Technik-Interaktion (MTI) in sicherheitskritischen Kontexten. Dieser Beitrag untersucht die technischen, psychologischen und organisationalen Implikationen dieser Entwicklung und analysiert, wie KI zur Erhöhung der technischen Sicherheit beitragen kann. Gleichzeitig werden neue Herausforderungen für Vertrauen, Verantwortung und Resilienz in sozio-technischen Systemen diskutiert. Ziel ist eine interdisziplinäre Einordnung aktueller Entwicklungen und eine differenzierte Betrachtung der Chancen und Risiken im Kontext von Safety-Management und Human Factors.


1. Einleitung Mit dem Einzug KI-basierter Verfahren in die Anlagen- und Prozesstechnik entsteht ein neues technisches Paradigma: intelligente Systeme übernehmen nicht nur repetitive, sondern zunehmend auch diagnostische, prognostische und operative Funktionen. Die Motivation für diese Integration reicht von Effizienzgewinnen über Kostenreduktion bis hin zur Erhöhung der Betriebssicherheit. Gleichzeitig verändern sich die Rollenverteilung zwischen Mensch und Maschine, die Anforderungen an Systemtransparenz sowie die Verantwortungsteilung im Fehlerfall. Diese Entwicklung verlangt nach einer fundierten Analyse aus interdisziplinärer Perspektive.

2. Mensch-Technik-Interaktion unter KI-Bedingungen Traditionell ist die Mensch-Technik-Interaktion in der Prozessindustrie durch klar definierte Aufgabenverteilungen gekennzeichnet: Der Mensch plant, entscheidet und überwacht, die Technik führt aus. KI-basierte Systeme hingegen verschieben diese Aufgabenteilung. Entscheidungsunterstützung, autonome Prozessregelung und prädiktive Wartung reduzieren die aktive Rolle des Menschen zugunsten einer überwachenden Funktion. Diese Transformation bringt eine neue Form der Interaktion hervor, die nicht mehr rein funktional, sondern reflexiv ist: Der Mensch wird zum Supervisor eines nur eingeschränkt erklärbaren Systems.

Die Folge ist eine Reihe psychologischer Herausforderungen: Automatisierungsgläubigkeit ("automation bias"), Übervertrauen und die Gefahr des Kompetenzverlusts durch mangelnde Praxisfälle. Zugleich erschweren Black-Box-Modelle eine kritische Bewertung algorithmischer Vorschläge. Studien zeigen, dass Transparenz und Erklärbarkeit ("explainability") zentrale Faktoren für die Vertrauensbildung in KI-Systeme darstellen (de Visser et al., 2020; Endsley, 2017).

3. Technische Sicherheit durch KI Die technischen Potenziale von KI in der Sicherheitstechnik sind vielfältig. Verfahren des maschinellen Lernens können in großen Datenmengen Anomalien detektieren, die mit klassischen Methoden nicht identifizierbar wären. Auf dieser Grundlage entstehen neue Ansätze der prädiktiven Instandhaltung ("Predictive Maintenance"), die Ausfallwahrscheinlichkeiten auf Basis historischer Daten berechnen und gezielte Wartungsinterventionen ermöglichen (Zhou et al., 2021).

Darüber hinaus bieten KI-basierte Systeme adaptive Steuerungsmöglichkeiten, die in Echtzeit auf sich ändernde Prozessbedingungen reagieren können. Besonders relevant ist dies in hochdynamischen oder wenig vorhersehbaren Szenarien, etwa bei Störfällen. Auch in der Notfallbewältigung lassen sich simulationsgestützte KI-Werkzeuge einsetzen, um das Verhalten von Systemen und Personal unter extremen Bedingungen zu analysieren und zu trainieren.

Allerdings ist die Absicherung dieser Systeme komplex. Während klassische Sicherheitsfunktionen auf deterministischen Modellen beruhen, agieren viele KI-Systeme probabilistisch. Daraus ergeben sich Herausforderungen für Nachweisverfahren, Normenkonformität (z. B. IEC 61508) und funktionale Sicherheit.

4. Organisationale und normative Implikationen Die Integration KI-basierter Sicherheitstechnologien erfordert mehr als technische Anpassungen. Organisationen müssen neue Rollenbilder entwickeln, Schulungskonzepte etablieren und Verantwortung neu denken. Partizipative Einführungsstrategien, transparente Kommunikation und kontinuierliches Monitoring sind zentrale Elemente eines resilienten Umgangs mit KI.

Zudem stellt sich die Frage nach ethischen und juristischen Rahmenbedingungen. Wer haftet im Fehlerfall? Welche Entscheidungsbefugnisse dürfen autonome Systeme haben? Und wie wird der Mensch als letzter Entscheider eingebunden, ohne dass er faktisch entmündigt wird? Hier braucht es integrative Konzepte aus Technik, Psychologie und Recht.

5. Schlussfolgerung KI kann die Sicherheit in der Prozess- und Anlagentechnik nachhaltig verbessern, vorausgesetzt, sie wird als Teil eines sozio-technischen Systems verstanden. Die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und KI entscheidet über Erfolg oder Misserfolg dieser Entwicklung. Erforderlich sind neue Formen der Zusammenarbeit, eine Verständigung über Verantwortlichkeiten und robuste Prozesse der Vertrauensbildung.

Literatur

de Visser, E. J., Pak, R., & Shaw, T. H. (2020). From 'automation' to 'autonomy': The importance of trust repair in human-machine interaction. Ergonomics, 63(5), 566-578.

Endsley, M. R. (2017). From here to autonomy: Lessons learned from human–automation research. Human Factors, 59(1), 5–27.

Hollnagel, E. (2014). Safety-I and Safety-II: The past and future of safety management. Ashgate.

Parasuraman, R., & Riley, V. (1997). Humans and automation: Use, misuse, disuse, abuse. Human Factors, 39(2), 230–253.

Zhou, Y., Yang, H., & Peng, Y. (2021). A review of data-driven fault detection and diagnosis for complex industrial processes. Processes, 9(1), 117.

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