Das Eigenleben der Bürokratie – Eine psychologische Betrachtung organisationaler Selbstreferenzialität
In der Alltagsrhetorik steht Bürokratie sinnbildlich für Schwerfälligkeit, Unflexibilität und Formalismus. Doch jenseits der Klischees lässt sich das „Bürokratie-Ungetüm“, wie es in der DIE ZEIT (45/2025) im Artikel Hallo, hört mich jemand? am Beispiel der Bundeswehr beschrieben wird, als psychologisch faszinierendes Phänomen verstehen. Es ist das Produkt eines über Jahre gewachsenen Zusammenspiels aus Struktur, Kultur und Mentalität – ein System, das sich selbst stabilisiert, auch wenn seine Funktion längst hinter seiner Form zurücktritt.
Max Weber (1922) sah in der Bürokratie ursprünglich die rationalste Organisationsform moderner Gesellschaften: Regelgebundenheit, Arbeitsteilung, Aktenmäßigkeit und Hierarchie sollten Willkür vermeiden und Verlässlichkeit sichern. Doch genau diese Prinzipien bergen den Keim der Erstarrung. Robert K. Merton (1940) beschrieb das Paradox als „trained incapacity“ – eine erlernte Unfähigkeit, die aus übermäßiger Regelbefolgung entsteht. Mitarbeitende handeln dann regelkonform, auch wenn die Regel offensichtlich unzweckmäßig ist.
Organisationspsychologisch betrachtet entwickelt Bürokratie auf dieser Basis eine eigene Identität. Sie reagiert nicht primär auf Umweltanforderungen, sondern auf sich selbst – auf interne Prozeduren, Zuständigkeiten und Mitspracherechte. Diese Selbstreferenzialität entspricht Luhmanns (1984) Beschreibung sozialer Systeme, die ihre Umwelt nur durch eigene Codes wahrnehmen und reproduzieren. Die Folge ist ein „Eigenleben“, das sich aus interner Logik nährt: Man spricht in Formularen, denkt in Zuständigkeiten und agiert in Abstimmungsschleifen.
Die psychologische Grundlage dieses Eigenlebens ist die mentale Kompensation von Unsicherheit. Komplexe Organisationen erzeugen Angst vor Fehlentscheidungen, sozialem Gesichtsverlust und Verantwortungsübernahme. Hierarchische Strukturen bieten Schutz: Wer sich an Regeln hält, macht keinen Fehler – jedenfalls keinen sanktionierbaren. In diesem Kontext wird Schönreden zum kollektiven Bewältigungsmechanismus. Es neutralisiert Spannungen zwischen dem, was sinnvoll wäre, und dem, was formal korrekt ist.
Das Schönreden erfüllt dabei mehrere psychologische Funktionen. Erstens dient es der kognitiven Dissonanzreduktion (Festinger, 1957): Mitarbeitende, die erleben, dass Effizienz und Sinn auf der Strecke bleiben, stabilisieren ihr Selbstbild, indem sie den Status quo rhetorisch rechtfertigen. Zweitens ermöglicht es soziale Kohärenz: Wer in der Organisation bestehen will, passt seine Sprache der institutionellen Rationalität an. Und drittens erzeugt es eine illusorische Kontrolle (Langer, 1975), die das Gefühl vermittelt, alles sei „unter Kontrolle“, obwohl das System längst seine eigene Dynamik entfaltet hat.
Psychologisch betrachtet ist die Bürokratie damit kein pathologisches, sondern ein adaptives System – nur dass sich seine Anpassung nicht an externen Zielen, sondern an internen Bedürfnissen orientiert: Sicherheit, Anschlussfähigkeit, Sanktionierbarkeit. Sie funktioniert also für sich, nicht für den Zweck.
Eine nachhaltige Veränderung solcher Systeme kann nicht allein durch Reorganisation oder Digitalisierung erreicht werden. Sie erfordert eine Transformation der psychologischen Grundannahmen, auf denen Bürokratien beruhen – insbesondere die Annahmen über Fehler, Verantwortung und Vertrauen. Erst wenn Fehlertoleranz nicht als Schwäche, sondern als Lernchance gilt, wenn Verantwortung geteilt statt delegiert wird und wenn Vertrauen stärker zählt als Kontrolle, kann das „Bürokratie-Ungetüm“ seine menschliche Seite wiederfinden.
Literatur (APA-Stil)
Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.
Langer, E. J. (1975). The illusion of control. Journal of Personality and Social Psychology, 32(2), 311–328.
Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp.
Merton, R. K. (1940). Bureaucratic structure and personality. Social Forces, 18(4), 560–568.
Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr Siebeck.
