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Die psychologische Konstruktion von Bedrohung: Kognitive Verarbeitung und soziale Wirklichkeit sicherheitspolitischer Narrative

In modernen Gesellschaften ist die Wahrnehmung von Bedrohungen ein zentrales Moment politischer Steuerung und gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge. Während Risiken mithilfe quantitativer Modelle berechnet werden können, ist Bedrohung immer auch ein psychologisches und soziales Konstrukt. Die Kognitionspsychologie, die Sozialpsychologie und die Politikwissenschaft haben wiederholt gezeigt, dass Bedrohung nicht einfach „da draußen“ existiert, sondern durch Wahrnehmung, Emotion, Sprache und Narrative erzeugt, verstärkt oder abgeschwächt wird (Slovic, 2000; Entman, 1993).

Diese Konstruktion hat tiefgreifende Folgen: Sie beeinflusst individuelle Entscheidungsprozesse, das Verhalten von Organisationen und die Legitimation staatlicher Maßnahmen. Ziel dieses Beitrags ist es, die psychologischen Mechanismen der Bedrohungskonstruktion zu beleuchten und ihre Bedeutung für die Sicherheitsvorsorge zu diskutieren.

Risiko versus Bedrohung

Ein zentraler Unterschied liegt zwischen Risiko und Bedrohung. Risiko bezeichnet Wahrscheinlichkeiten und kalkulierbare Gefahren. Bedrohung hingegen ist qualitativ, affektiv und sozial verankert (Douglas & Wildavsky, 1982). Dieselben Risikodaten können in unterschiedlichen Kulturen und sozialen Kontexten zu völlig verschiedenen Bedrohungsbildern führen.

Psychologisch ist Bedrohung nicht nur eine Funktion externer Gefahren, sondern entsteht durch kognitive Prozesse: selektive Wahrnehmung, Heuristiken und Biases. Diese psychologische Dimension erklärt, warum Bedrohungen häufig über- oder unterschätzt werden.

Kognitive Grundlagen

Die Wahrnehmung von Bedrohung wird maßgeblich durch kognitive Verzerrungen bestimmt.

  • Availability heuristic: Je leichter ein Ereignis erinnert oder vorgestellt werden kann, desto wahrscheinlicher erscheint es (Tversky & Kahneman, 1973). Dies erklärt, warum Terroranschläge oder Flugzeugabstürze überschätzt werden, während alltägliche, statistisch viel gefährlichere Risiken unterschätzt bleiben.

  • Confirmation bias: Menschen neigen dazu, Informationen zu suchen und zu interpretieren, die bestehende Überzeugungen bestätigen (Nickerson, 1998). Dies gilt auch für Bedrohungsnarrative, die einmal etabliert wurden.

  • Groupthink: In sicherheitspolitischen Gremien führt Konformitätsdruck dazu, dass alternative Deutungen unterdrückt werden (Janis, 1982). Dadurch entstehen homogenisierte Bedrohungsbilder, die zwar kohärent erscheinen, aber wenig realitätsangemessen sind.

Diese Mechanismen zeigen, dass Bedrohung weniger ein „Fakt“ als vielmehr ein Produkt kognitiver Verarbeitung ist.

Emotionale Dimensionen

Bedrohungen sind untrennbar mit Emotionen verbunden. Angst ist hier der zentrale Affekt. Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Bedrohungsreize sehr schnell und weitgehend automatisch verarbeitet werden, insbesondere über die Amygdala (Öhman, 2008).

Auf kollektiver Ebene wirken Mechanismen der emotionalen Ansteckung (Barsade, 2002). Bedrohungsgefühle können sich innerhalb von Gruppen und Gesellschaften rasch verbreiten. Politische Kommunikation und Medien verstärken diesen Effekt, indem sie narrative Rahmungen bereitstellen, die die kollektive Angst strukturieren.

Soziale Konstruktionen und Narrative

Die Sozialpsychologie betont, dass Bedrohung nicht nur individuell, sondern auch kollektiv konstruiert wird.

  • Ingroup–Outgroup-Dynamiken (Tajfel & Turner, 1986) führen dazu, dass Bedrohungen bevorzugt „den anderen“ zugeschrieben werden. Dies stabilisiert die Eigengruppe und erhöht die soziale Kohäsion.

  • Framing: Metaphern wie „Krieg gegen den Terror“ oder „Flut von Flüchtlingen“ schaffen semantische Strukturen, die komplexe Sachverhalte vereinfachen und politische Maßnahmen legitimieren (Entman, 1993).

  • Kulturelle Risikokonstruktionen: Douglas und Wildavsky (1982) zeigen, dass jede Gesellschaft Bedrohungen entlang kultureller Codes auswählt. In westlichen Gesellschaften stehen Terrorismus und Cyberrisiken im Vordergrund, in anderen Kontexten werden moralische oder soziale Gefahren betont.

Medien und digitale Kommunikation

Medien prägen Bedrohungswahrnehmungen durch Bildwelten und narrative Rahmungen. Ikonische Bilder – die einstürzenden Türme am 11. September oder leere Straßen während der Pandemie – sind zu kollektiven Symbolen geworden.

Digitale Kommunikation verstärkt diese Effekte. Algorithmen in sozialen Netzwerken begünstigen Polarisierung, indem sie Informationen selektiv verbreiten (Sunstein, 2018). Echokammern und Filterblasen führen dazu, dass Bedrohungsnarrative in geschlossenen Systemen zirkulieren und sich dort radikalisieren. Psychologisch entsteht so eine „gefühlte Allgegenwart“ von Gefahr.

Fallbeispiele

Drei Fallbeispiele verdeutlichen diese Dynamiken:

  • Terrorismus: Terror entfaltet seine Wirkung weniger durch physische Gewalt, sondern durch die mediale und politische Konstruktion von Bedrohung. Das Narrativ des „Krieges gegen den Terror“ legitimierte tiefgreifende Eingriffe in Freiheitsrechte.

  • Cyberbedrohungen: Unsichtbare Angriffe verstärken Gefühle der Ohnmacht. Begriffe wie „Cyberkrieg“ erzeugen die Vorstellung einer permanenten, allgegenwärtigen Bedrohung, unabhängig von der tatsächlichen Schadensbilanz.

  • Pandemie: Die Unsichtbarkeit des Virus führte zu kollektiver Angst. Narrative wie „Krieg gegen das Virus“ machten die Bedrohung fassbar und ermöglichten die Akzeptanz einschneidender Maßnahmen. Widersprüchliche Narrative führten jedoch zu Vertrauensverlust.

Praktische Implikationen

Aus diesen Überlegungen ergeben sich Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen:

  • Individuell: Förderung von Ambiguitätstoleranz, Schulung in Bias-Erkennung, Training im Umgang mit Unsicherheit.

  • Organisationen: Entwicklung einer „Just Culture“, Szenarienarbeit, interdisziplinäre Teams.

  • Gesellschaftlich: Medienkompetenzprogramme, Förderung pluraler Diskurse, transparente Kommunikation von Unsicherheit.

Die Psychologie kann so einen wichtigen Beitrag leisten, die Handlungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft zu sichern.

Fazit

Bedrohung ist keine objektive Gegebenheit, sondern eine psychologische und soziale Konstruktion. Sie entsteht durch Kognition, Emotion, Kommunikation und Kultur. Narrative wirken wie Realität und beeinflussen, welche politischen Maßnahmen akzeptiert werden.

Eine reflektierte Sicherheitsvorsorge muss diese Dimension berücksichtigen. Nur durch kritisches Denken, Resilienzstrategien und die Förderung von Ambiguitätstoleranz kann gesamtstaatliche Handlungsfähigkeit langfristig gesichert werden.

Literatur

  • Barsade, S. G. (2002). The ripple effect: Emotional contagion and its influence on group behavior. Administrative Science Quarterly, 47(4), 644–675. https://doi.org/10.2307/3094912
  • Douglas, M., & Wildavsky, A. (1982). Risk and culture: An essay on the selection of technical and environmental dangers. University of California Press.
  • Entman, R. M. (1993). Framing: Toward clarification of a fractured paradigm. Journal of Communication, 43(4), 51–58. https://doi.org/10.1111/j.1460-2466.1993.tb01304.x
  • Janis, I. L. (1982). Groupthink: Psychological studies of policy decisions and fiascoes (2nd ed.). Houghton Mifflin.
  • Nickerson, R. S. (1998). Confirmation bias: A ubiquitous phenomenon in many guises. Review of General Psychology, 2(2), 175–220. https://doi.org/10.1037/1089-2680.2.2.175
  • Öhman, A. (2008). Fear and anxiety: Overlaps and dissociations. In M. Lewis, J. M. Haviland-Jones, & L. F. Barrett (Eds.), Handbook of emotions (3rd ed., pp. 709–729). Guilford Press.
  • Slovic, P. (2000). The perception of risk. Earthscan.
  • Sunstein, C. R. (2018). #Republic: Divided democracy in the age of social media. Princeton University Press.
  • Tajfel, H., & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior. In S. Worchel & W. G. Austin (Eds.), Psychology of intergroup relations (pp. 7–24). Nelson-Hall.
  • Tversky, A., & Kahneman, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5(2), 207–232.


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