Die digitale Transformation des Todes ist keine Science-Fiction mehr. Die sogenannte „Digital Afterlife“-Industrie verspricht Hinterbliebenen Trost durch digitale Abbilder Verstorbener, etwa in Form von Chatbots, Avataren oder virtuellen Gedenkräumen. Was einst Grabstein und Fotoalben leisteten, übernehmen heute KI-Systeme, die aus Textnachrichten, Sprachnachrichten und Social Media-Profilen rekonstruiert wurden. Diese Entwicklung wirft nicht nur technologische und ethisch-rechtliche Fragen auf, sondern berührt auch tiefgreifende psychologische Dimensionen: Wie verändert sich Trauer, wenn der Verstorbene nicht wirklich verschwindet? Was macht es mit unserer Identität, wenn unser digitales Selbst überdauert?
Technologisch basiert die Digital Afterlife-Industrie auf Natural Language Processing (NLP), generativen KI-Modellen und multimodaler Datenaggregation. Systeme wie „Replika“ oder „HereAfter AI“ nutzen Chatverläufe, Videos und Tonaufnahmen, um digitale Repräsentanzen zu erschaffen, die über den Tod hinaus interagieren können. Erste Anwendungen in der Memory Preservation finden sich bereits in der Pflege oder der Palliativmedizin, wo Sprachaufzeichnungen genutzt werden, um Lebensgeschichten für Angehörige zu konservieren.
Während heutige Systeme noch deutlich erkennbare Limitationen aufweisen, zeichnet sich ein Trend ab: Mit zunehmender Personalisierung und emotionaler Expressivität steigt die Illusion von Echtheit – und damit das psychologische Konfliktpotenzial.
Aus ethischer Sicht stellen sich Fragen der Autonomie, Würde und Einwilligung: Kann ein Verstorbener wirksam zustimmen, posthum durch KI weiterzuleben? Wer entscheidet über den Zugang, die Dauer und die Gestaltung dieser digitalen Abbilder? Was geschieht mit den Daten im Fall familiärer Konflikte oder wirtschaftlicher Interessen?
Juristisch ist das Feld derzeit kaum reguliert. Das Datenschutzrecht endet in vielen Ländern mit dem Tod – eine Gesetzeslücke, die die kommerzielle Nutzung digitaler Identitäten ermöglicht, ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte. Auch das Urheberrecht an Stimmen, Texten oder Bildern ist bislang unklar geregelt.
Aus psychologischer Sicht ist das Phänomen ambivalent. Digitale Abbilder können Trauer erleichtern, insbesondere bei plötzlichem Verlust oder unerfüllten Abschiedsbedürfnissen. Sie ermöglichen symbolische Kommunikation, Kontinuität und Sinngebung. Gleichzeitig bergen sie das Risiko einer pathologischen Bindung: Wenn das digitale Gegenüber „lebendig“ erscheint, kann es zu einer Dissoziation zwischen Realität und digitaler Fiktion kommen.
Untersuchungen zu digitalen Gedenkplattformen zeigen, dass Nutzer:innen oft zwischen Erleichterung, Schuldgefühlen und einem Gefühl der Unwirklichkeit schwanken (Brubaker & Hayes, 2011). Das Risiko der „permanenten Präsenz“ verstorbener Personen – etwa durch Erinnerungen in sozialen Medien oder automatisierte Interaktionen – kann die Verarbeitung des Verlusts verzögern oder verzerren.
Zudem stellt sich die Frage: Wenn mein digitaler Zwilling weiterlebt – wer bin dann ich? Die Vorstellung, dass unsere Persönlichkeit aus Daten reproduzierbar sei, widerspricht psychologischen Modellen von Identität als prozesshaftem, sozial eingebettetem und subjektivem Phänomen.
Die Digital Afterlife-Industrie steht am Anfang – doch sie berührt einen wunden Punkt in unserer Beziehung zu Technologie: den Wunsch nach Kontrolle über das Unkontrollierbare. Technologisch möglich wird, was psychologisch heikel ist. Deshalb braucht es eine breite, interdisziplinäre Diskussion darüber, was ein „guter Tod“ im digitalen Zeitalter bedeutet – und wie wir als Gesellschaft mit posthum weiterexistierenden Daten umgehen wollen.
Quellen:
Brubaker, J. R., & Hayes, G. R. (2011). "We will never forget you": An empirical investigation of post-mortem MySpace comments. Proceedings of the ACM Conference on Computer Supported Cooperative Work, 123-132.
Székely, I., & Tóth, A. (2019). Digital Afterlife: What happens to our data when we die? International Review of Law, Computers & Technology, 33(1), 26–42.